Wir lesen vor
Harry steht vor meiner Tür.
Er sagt, ich soll mitkommen.
Ich
soll ihm helfen.
Harry ist mein Nachbar.
Harry ist okay. Ich mag ihn.
Manchmal
helfe ich ihm.
Beim Äpfel einsammeln. Oder beim Holz
hacken.
Beim Hühner füttern. Oder beim Hof fegen.
Alles
Mögliche eben. Was gerade anliegt.
Manchmal spendiert er mir
danach ein Eis.
Blaues Schlumpf – Eis. Das mag ich am liebsten.
Manchmal lacht Harry über mich.
Weil ich so langsam denke.
Dann
sagt er, dass ich dämlich bin.
Harry ist nämlich viel klüger
als ich. Sagt er.
Er hat zehn Klassen.
Und eine Ausbildung.
Mit Zeugnis.
Aber ich bin trotzdem okay für ihn. Sagt er.
Weil
ich sein Freund bin.
Harry steht vor meiner Tür.
Er sagt, ich soll mitkommen.
Ich
soll ihm helfen. Plakate kleben.
Er hat eine Leiter dabei.
Und
einen Eimer mit Kleister.
Und einen dicken Pinsel.
Er hat
eine große Tasche umgehängt.
Er zieht ein Plakat aus der
Tasche.
Er rollt es aus.
Sieht doch super aus, oder?, sagt er.
Es sind blaue Plakate.
Mit
fetten Buchstaben.
Und einem Pfeil nach oben.
Wegen der
Wahl.
Das sind Plakate von seiner Partei, sagt Harry.
Und
dass er mich brauchen kann.
Auch wenn ich dämlich
bin.
Schließlich bin ich sein Freund.
Er sagt, jeder kann was tun.
Damit es besser wird in unserem
Land.
Damit Deutschland wieder den Deutschen gehört.
Das
wäre doch ganz einfach.
Das würde ich doch verstehen?
Na
also.
Los, sagt er, komm schon.
Du wirst sehen, sagt er.
Die
Leute von meiner Partei werden richtig aufräumen.
Wenn sie erst
gewählt sind.
Wenn sie erst die Macht haben.
Dann wird
nämlich alles besser.
Das willst du doch auch. Oder?
Also
komm, Plakate kleben.
Einmal die Straße hoch. Und wieder
runter.
Das macht Spaß. Du kannst die Leiter tragen.
Und
hinterher kriegst du ein Eis.
Ich gucke Harry an.
Meinen Freund Harry.
Ich gucke das
Plakat an.
Ich denke nach.
Blau ist eine schöne Farbe.
Ich
mag Blau.
Blau ist der Himmel, wenn die Sonne scheint.
Blau
sind die Astern im Garten.
Und die Blumen, die
Vergiss-mein-nicht heißen.
Blau ist das Wasser im Fluss.
Hinter
der Wiese. Wo ich so gern spazieren gehe.
Blau ist das Schlumpf
– Eis. Das ich am liebsten esse.
Und meine Katze hat blaue
Augen.
Ich mag Blau.
Ich denke nach.
Harry drängelt.
Los, sagt er.
Was
ist denn. Jetzt komm schon.
Aber irgendwas grummelt in mir.
Irgendwas stört mich.
An irgendwas erinnert mich das.
Ich
muss weiter nachdenken.
Meine Oma fällt mir ein.
Meine
Oma, die nie gelogen hat.
Und jetzt fällt mir auch ein, was sie
gesagt hat.
Eh Harry, sage ich.
Ich bin vielleicht dämlich.
Ich bin
vielleicht langsam im Denken.
Viel langsamer als du.
Ich
kann nicht so gut reden wie du.
Und nicht so gut rechnen.
Ich
weiß vieles nicht. Was du weißt.
Aber eins weiß ich doch.
Ich weiß es von meiner Oma, sage ich.
Von meiner Oma, die nie
gelogen hat.
Die hat mir das nämlich erklärt.
Meine Oma
ist vor 3 Wochen gestorben.
Letzte Woche war die
Beerdigung.
Jetzt wohnt sie im Himmel.
Und guckt auf mich
runter.
Sie war ziemlich alt, meine Oma.
Viel älter als
du.
95 Jahre!
Und sie wusste viel.
Weil sie lange
gelebt hat.
Meine Oma hat gesagt, dass die Leute,
für die du Plakate
klebst,
schon einmal die Macht hatten.
Vor langer
Zeit.
Und sie hat gesagt,
dass das eine schlimme Zeit
war.
Auch wenn die Leute damals
eine andere Farbe
hatten.
Nicht blau.
Nicht die Farbe des Himmels.
Sondern
die Farbe der Erde.
Braun.
Meine Oma hat gesagt,
dass die Leute mit der braunen Farbe
das
schon einmal gemacht haben.
Das mit dem Aufräumen. In unserem
Land.
Und dass die auch gesagt haben,
dass Deutschland den
Deutschen gehören soll.
Genau wie du.
Und dass die auch
gesagt haben,
dass alles besser wird,
wenn sie erst an der
Macht sind.
Das ist lange her, hat meine Oma gesagt.
Aber sie hat es
erlebt.
Und sie wird es nie vergessen.
Und meine Oma sagt
die Wahrheit.
Es wurde aber nicht besser, hat sie gesagt.
Es
wurde viel, viel schlimmer.
Als die Braunen an der Macht waren.
Die haben aufgeräumt, hat meine Oma gesagt.
Und weißt du, was
die mit aufräumen meinten?
Die haben alle umgebracht, die
anders waren.
Zum Beispiel Menschen wie mich.
Menschen, die
ihnen zu langsam waren.
Oder zu dumm.
Oder Menschen, die
im Rollstuhl saßen.
Oder blind waren.
Oder nicht hören
konnten.
Menschen, die keinem etwas getan hatten.
Die haben
sie umgebracht.
Mit Gas. Oder mit Spritzen. In denen Gift
war.
Oder mit Hunger.
Und Menschen, die anders dachten als
sie.
Und Menschen, die anders glaubten als sie.
Und
Menschen, die anders aussahen als sie.
Die haben sie alle
umgebracht.
Ich war furchtbar erschrocken, als meine Oma das sagte.
Und ich
hab sie gefragt:
Warum haben die das gemacht?
Weil sie sich für was Besseres hielten,
hat meine Oma
gesagt.
Weil sie dachten, nur sie sind etwas wert.
Und die
anderen sind Dreck.
Weil sie dachten, so geht aufräumen.
Weil
sie dachten, es soll nur Leute geben,
die so sind wie sie.
Weil
sie dachten, alle sollen gleich sein.
Aber das ist ja dumm, habe ich gesagt.
Stimmt, hat meine Oma
gesagt.
Das ist dumm. Und böse.
Schließlich hat Gott uns
alle verschieden gemacht.
Wenn er lauter gleiche Menschen
gewollt hätte,
hat sie gesagt, hätte er uns alle gleich
gemacht.
Hat er aber nicht.
Weil es viel schöner ist, wenn
wir verschieden sind.
Wegen der Abwechslung.
Und dann hat meine Oma mich umarmt.
Und mich ganz fest gedrückt.
Und gesagt, dass ich ihr Liebling bin.
Und dass ich schwer
in Ordnung bin, wie ich bin.
Und dass ich gut auf mich aufpassen
soll.
Weil sie das bald nicht mehr tun kann.
Egal, welche Farbe, hat sie gesagt.
Egal ob Braun oder
Blau:
Lass dir nichts vom Aufräumen erzählen.
Und nichts
von besseren und weniger besseren Menschen.
Okay Oma, hab ich
gesagt.
Das merke ich mir. Versprochen.
Halt den Mund, sagt Harry.
Komm jetzt mit. Und fertig.
Nein,
sage ich.
Ich komme nicht mit.
Ich will keine Plakate
kleben.
Keine blauen Plakate.
Obwohl ich Blau mag.
Blau
ist eine schöne Farbe.
Blau ist sogar meine
Lieblingsfarbe.
Aber deine Plakate sind doof.
Harry guckt mich böse an.
Deine Oma spinnt, sagt er.
Das
war gar nicht so.
Das mit dem Umbringen.
Das war ganz
anders.
Das ist alles gelogen.
Stopp, sage ich.
Meine
Oma lügt nicht.
Die hat noch nie gelogen.
Damit du es
weißt.
Keiner sagt was Schlechtes über meine Oma.
Auch du
nicht!
Wir stehen uns gegenüber.
Harry und ich.
Wir gucken uns
an.
Harry ist wütend.
Er hat eine steile Falte auf der
Stirn.
Mein Herz klopft.
Ich will nicht streiten.
Harry
ist doch mein Freund.
Oder?
Weißt du Harry, sage ich.
Sonst helfe ich dir immer gern.
Beim Äpfel sammeln. Beim Holz hacken.
Beim Hühner füttern. Beim Hof fegen.
Überhaupt bei fast allem.
Weil wir doch Freunde sind.
Ich mag dich nämlich.
Obwohl du anders bist als ich.
Ich finde anders sein gut.
Wegen der Abwechslung.
starker Text! super spannend. Wichtiges Thema. Bei mir wäre das der Sieger.
Schade, dass er nicht zu Ende vorgelesen wird. Hört in der Mitte auf. Hätte gern alles gehört.